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KI hilft bei der Temperaturbestimmung

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Wenn ein E-Motor mit hoher Drehzahl rotiert, ist es schwer, die genaue Temperatur in seinem Inneren zu ermitteln. Die ist aber wichtig für die Funktionsentwicklung und den Betrieb. Wo Mensch und Messung an Grenzen stoßen, hilft jetzt die KI weiter.
Andreas Neemann,
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Andreas Neemann hat seinen ersten ZF-Magazintext im Jahr 2001 zum 6HP-Automatgetriebe geschrieben. Seither begleitet der Automotive-Autor mit Faible für komplexe Themen den Konzern in vielen Publikationen für interne wie externe Leser.
Was passiert eigentlich exakt im Inneren eines ZF-E-Motors, wenn der Stator an den Wickelköpfen durch Ölnebel gekühlt wird, während der Rotor in unterschiedlich hohen Drehzahlen darin rotiert? Auf diese Frage gibt es keine physikalisch genaue Antwort – zu chaotisch und je nach Drehzahl vollkommen unterschiedlich ist das Verhalten der Millionen Öltröpfchen, die durch ihre Bewegung die Hitze von den Wickelköpfen wegtransportieren. „Wir sind allerdings auf möglichst exakte Temperaturangaben angewiesen“, erklärt Alexander Hoffmann, Senior Manager Electrified Powertrain Technologie bei ZF. „Immerhin müssen wir bei der Entwicklung unserer Software-Funktionen sicherstellen, dass in den verschiedenen Betriebsmodi die Magnete im Rotor die maximal zulässige Temperatur nicht überschreiten, um sie vor Entmagnetisierung zu schützen.“

Ein Fall für die KI: Millionen von Kombinationsmöglichkeiten

Die KI hilft den ZF-Ingenieuren, Vorgänge zu verstehen und zu erfassen, für die es – aus Kosten- oder Zeitgründen – kein physikalisch zuverlässiges Modell gibt. Das Problem: Die Temperatur im Inneren eines Rotors lässt sich nicht direkt messen, während die E-Maschine im Fahrzeug im Betrieb ist. Außerdem kann die Wirkung der Ölkühlung durch Simulation nicht mit der erforderlichen Genauigkeit ermittelt werden. „Am Prüfstand hat sich gezeigt: Mit unseren Simulationsmodellen haben wir zu große Abweichungen – die sind nicht präzise genug“, so Hoffmann.

Andererseits gibt es genug Informationen in Form von Messdaten. Sie werden bei aufwändigen Funktionstests am Prüfstand und später auch in den Erprobungsfahrzeugen systematisch ermittelt: Temperaturmessungen aus dem Umfeld – etwa von dem in der Ölwanne befindlichen Öl – stehen ebenso zur Verfügung wie die Ölmenge, die zur Kühlung eingesetzt wird. Auch die Drehzahlen des Rotors werden permanent ermittelt.

Auf den ersten Blick sieht das nach überschaubaren Zahlen aus – de facto handelt es sich um eine Datenflut, die sich aus den verschiedensten möglichen Betriebspunkten und deren zeitlichen Verlauf ergibt. Sie sind abhängig davon, ob und wann die Fahrerinnen und Fahrer die volle Leistung abrufen oder im Schritttempo dahingleiten. So ergeben sich Millionen von Datenpunkten. Kein Mensch kann sich diese Datenflut anschauen und sie auf Zusammenhänge hin untersuchen.

Entwicklungszeit sinkt auf ein Drittel

Genau das ist der Vorzug von KI-Algorithmen. Entsprechend „antrainiert“ filtert der Algorithmus exakt jene Korrelationen heraus, die besonders aussagekräftig für die Temperaturveränderungen am Rotor und Stator sind. Mit diesen Informationen lassen sich dann die ZF-Simulationsmodelle verfeinern. „Wir haben am Prüfstand ermittelt, dass die Ergebnisse, die wir auf diese Weise erhalten, nur mehr um wenige Grad von der gemessenen Temperatur abweichen“, so Hoffmann.
„Wir haben am Prüfstand ermittelt, dass die Ergebnisse, die wir auf diese Weise erhalten, nur mehr um wenige Grad von der gemessenen Temperatur abweichen.“
Alexander Hoffmann

Diese Unterstützung durch künstliche Intelligenz hat enormes Potenzial für ZF. Zum einen kann es die Entwicklungszeiten für E-Maschinen im Pkw-Einsatz massiv verkürzen. „Zeitraubende Sonderversuche, mit denen wir die früheren Verfahren begleitet haben, um die physikalischen Eigenschaften verschiedenster Bauteile ‚abzusichern‘ und so die Simulationsgüte zu überprüfen, können nun wegfallen“, erklärt Hoffmann. Ein weiterer Aspekt: Nicht nur bei E-Maschinen für Pkw-Antriebe ist Temperaturerfassung in unzugänglichen, weil dynamischen Bereichen ein wichtiger Faktor: „Das KI-Modell kann auf ganz viele ZF-Produkte übertragen werden – immer dann, wenn die Betriebstemperatur wesentlich für die Funktionsentwicklung und eine exakte Messung während des Betriebs nicht möglich ist“, ergänzt Dr. Martina Flatscher, AI Strategist im Bereich Forschung und Entwicklung.

Zum „Nulltarif“ gibt es die KI-Unterstützung allerdings nicht. Ein wesentlicher Aufwand entsteht vor allem dabei, die Daten KI-tauglich zu erfassen. „Bis zu 90 Prozent der Zeit verwenden wir für die Datenaufbereitung, das eigentliche Anlernen der KI verursacht dann nur noch zehn Prozent des Aufwandes“, so Flatschers Faustformel. Damit der von ZF programmierte Algorithmus die Terabyte von Messdaten vergleichen kann, müssen diese möglichst standardisiert sein – was sie in den meisten Fällen nicht sind. Neben den divisionalen Unterschieden bei ZF gibt es auch kundenspezifische Abweichungen – sowohl bei den Signalstandards wie auch bei den Metadaten. „Die Bezeichnung für die Motordrehzahl wechselt beispielsweise, je nachdem, von welcher Marke das Erprobungsfahrzeug ist“, betont Hoffmann.

Wichtiger denn je: die Menschen

Weil die KI nur dort sinnvoll unterstützen kann, wo es valide Messdaten gibt und standardisierte Datenmengen zur Auswertung verfügbar sind, steigt auch die Bedeutung der „menschlichen“ Kolleginnen und Kollegen. Messtechnik-Know-how und gutes Messdaten-Handling ist dabei ein entscheidender Faktor. Es lohnt sich, über die Prioritäten neu nachzudenken. Denn die Frage: „Was braucht es, um einen KI-Algorithmus optimal anzulernen?“ spielt in der künftigen Entwicklungsarbeit eine deutlich wichtigere Rolle.