see. think. act.

Technologie

Reisekrankheit ist ein sehr individuelles Phänomen

min Lesezeit
Tags: SeeThinkAct, AutonomesFahren
Vielen Menschen wird es während einer Autofahrt übel. Warum dies so ist und wie sich die Reisekrankheit vermeiden lässt, daran forschen der Zulieferer ZF sowie Wissenschaftler der Universität des Saarlandes. Ein Gastbeitrag von Frank Mertens.
Frank Mertens, 19. November 2019
author_image
Frank Mertens berichtet seit 2005 über die Autobranche. Dieser Artikel erschien zuerst auf seinem Portal www.autogazette.de
Mit steigendem Automatisierungsgrad der Fahrzeuge wird in Zukunft die Reisekrankheit (Motion Sickness) zunehmen, weil Passagiere beispielsweise gegen die Fahrtrichtung unterwegs sind und im Auto zunehmend andere Dinge tun, als aus dem Fenster zu sehen. Wie die Reisekrankheit zustande kommt und wie sie sich vermeiden lässt, darüber sprach die Autogazette mit Florian Dauth und Professor Daniel J. Strauss. Dauth ist bei ZF in der Vorentwicklung zuständig für die Untersuchung von Fahrzeugbewegungen mit Blick auf den Menschen. Der Neurotechnologe Strauss ist Direktor der Systems Neuroscience & Neurotechnology Unit (SNNU) an der Universität des Saarlandes und der HTW Saar.

Autogazette: Warum wird es Mitfahrern im Auto oftmals übel?

Autogazette: Warum wird es Mitfahrern im Auto oftmals übel?

Daniel J. Strauss: Der Mensch leidet immer dann, wenn er nicht aus dem Fenster sieht. Ein Fahrer in einem Fahrzeug wird nicht motion sick; ein Passagier auf der Rückbank aber, der etwas arbeitet oder liest, wird oftmals reisekrank. Man kann sagen, dass zwei Drittel der Menschen motion sick werden, ein Drittel davon sogar sehr stark. Frauen sind normalerweise ein bisschen sensitiver als Männer. Auch Kinder von etwa sechs bis zwölf Jahren sind im Schnitt etwas empfindlicher.
Florian Dauth, Projektleiter bei ZF (links), und Professor Daniel J. Strauss.

Autogazette: Wie erklärt sich das?

Autogazette: Wie erklärt sich das?

Strauss: Das menschliche Gehirn macht permanent Vorhersagen: was kommt jetzt und wie passt das, was ich sehe, mit der gefühlten Bewegung zusammen. Wenn ich also die Dynamik, die auf mich zukommt, nicht antizipieren kann, entsteht eine Diskrepanz. Dann kann das Gehirn mit der Vorhersage der Dynamik und der tatsächlich von mir erlebten Dynamik nichts anfangen. Wir nennen das einen sensorischen Konflikt, und der führt letztendlich zu dieser Motion Sickness.

Autogazette: Herr Dauth, warum interessiert sich ZF für Motion Sickness?

Autogazette: Herr Dauth, warum interessiert sich ZF für Motion Sickness?

Florian Dauth: ZF beschäftigt sich intensiv mit dem automatisierten Fahren; dabei ist der Komfort der Insassen ein entscheidender Faktor. Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit sind bei langen Autofahrten für zwei Drittel aller Passagiere eine häufige höchst unangenehme Begleiterscheinung. Dieses Problem wollen wir lösen.

Autogazette: Was lässt sich im Fahrzeug gegen die Reisekrankheit tun?

Autogazette: Was lässt sich im Fahrzeug gegen die Reisekrankheit tun?

Strauss: Stellen Sie sich vor, die Familie fährt in den Urlaub. Der Fahrer blickt in den Rückspiegel und sieht, dass es den Kindern nicht wirklich gut geht. Daraufhin verändert er seinen Fahrstil, fährt beispielsweise langsamer und vorsichtiger. Ein Fahrroboter macht das im Moment noch nicht. Der plant ja seine Überholmanöver und alles, was er tut, anhand anderer Faktoren.
Das Innovationsfahrzeug von ZF.

Dauth: Aktuell fokussiert man sich in der Entwicklung darauf, automatisierte Fahrfunktionen sicher darzustellen, also auf einen sicheren Transport von A nach B. Die Fähigkeit eines automatisierten Fahrzeuges, auf die Befindlichkeit von Passagieren zu reagieren, wie es Herr Strauss gerade erwähnt hat, geht natürlich darüber hinaus. Deshalb betrachten wir in einem Vorentwicklungsstadium auch den Innenraum und das Befinden der Passagiere, um darauf zu reagieren. Die Gesellschaft setzt in Zukunft einen sicheren Transport von A nach B voraus. Für Mobilitätsanbieter könnte dann der Fahrkomfort das wichtigste Entscheidungskriterium sein – eine Fahrt ohne das Auftreten von Motion Sickness bedeutet also für Mobilitätsanbieter einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

Autogazette: Wie läuft Ihr Forschungsprojekt ab?

Autogazette: Wie läuft Ihr Forschungsprojekt ab?

Dauth: Es verläuft dreistufig. Wir haben schnell erkannt, dass die Reisekrankheit ein sehr individuelles Phänomen ist. Das hat zu dem Konzept geführt, dass einerseits eine Erkennung des Passagierzustandes notwendig ist (Perception Part), im zweiten Schritt folgt die Evaluierung der Daten (Think Part) und darauf folgt dann drittens, mit den richtigen Schnittstellen zu den richtigen Aktuatoren die richtigen Gegen- oder Präventivmaßnahmen im Fahrzeug einzuleiten (Act Part).

Autogazette: Welche Maßnahmen folgen aus dem dreistufigen Entwicklungskonzept?

Autogazette: Welche Maßnahmen folgen aus dem dreistufigen Entwicklungskonzept?

Dauth: Wir konzentrieren uns auf die Vermeidung und auf Gegenmaßnahmen (Avoidance und Counter Measures). Bezogen auf einen Passagier: Wenn der Mismatch festgestellt und der Grad an Motion Sickness angepasst wurde, dann geht es in erster Linie darum, das Ganze fahrdynamisch zu unterdrücken. Wir wollen also gar nicht zulassen, dass diese Phänomene ihre extreme Wirkung zeigen können. Dazu haben wir ein erstes Konzept vorgestellt – wir haben es mit der Bezeichnung künstliche emotionale Intelligenz präsentiert.
Neben anderen Sensoren erfassen Kameras die physischen Reaktionen des Probanden auf die Fahrsituation.

Autogazette: Was steckt dahinter?

Autogazette: Was steckt dahinter?

Dauth: Wir checken kontinuierlich die relevanten Vitalwerte eines Passagiers. Über jegliche Fahrmanöver hinweg wird in kleineren Zeiträumen die Körperreaktion gemessen. Entstanden ist ein Algorithmus, der über mehrere hundert Kilometer erlernt, wie die Reaktionen des Passagiers sind. Die gespeicherten Werte erlauben dann später der Fahrstrategie eines automatisierten Fahrzeugs, Manöver in einem definierten Fahrdynamikbereich zu planen, wo wenige Muster dieser Vitalwerte erkannt wurden.

Autogazette: Wie kann man sich das vorstellen?

Autogazette: Wie kann man sich das vorstellen?

Dauth: Während der Fahrt lernt ein Algorithmus anhand der relevanten Vitalwerte zu verstehen, wie der Passagier auf bestimmte Fahrmanöver reagiert. Bei mehr als zehntausend Fahrkilometern haben wir über fünfzigtausend Gigabyte an physiologischen Daten des zentralen und autonomen Nervensystems gesammelt.

Autogazette: Sie planen unterschiedliche Maßnahmen gegen die Reisekrankheit. Wie sehen die im Einzelnen aus?

Autogazette: Sie planen unterschiedliche Maßnahmen gegen die Reisekrankheit. Wie sehen die im Einzelnen aus?

Dauth: Zum einen beschäftigen wir uns mit Avoidance, also der Vermeidung von Motion Sickness, etwa durch eine präventive Fahrweise. Die Gegenmaßnahmen entwickeln wir aktuell. Eine davon könnte sein, dass der Passagier seine Antizipationsmöglichkeit zurückerhält, obwohl er nicht aus dem Fenster schaut.
Während der Fahrt muss sich der Proband auf verschiedene Aufgaben konzentrieren.

Autogazette: Wie funktioniert das?

Autogazette: Wie funktioniert das?

Florian Dauth: Wir sprechen, abgesehen vom Blick auf die Fahrbahn, weitere Sinnesreize des Menschen an, um diese Information zu transportieren. Hier entwickeln wir akustische Signale. Die generierte Akustik im Fahrzeug enthält also Informationen, die den Passagieren sagen, wie die kommende Fahrdynamik sein wird. Vor einer Kurve liefert diese Akustik die Information, dass eine Links- oder Rechtskurve bevorsteht. Das haben wir den Probanden via Kopfhörer eingespielt. Aktuell wird parallel auch noch untersucht, inwiefern sich ein haptisches Feedback oder die Lichtgestaltung im Innenraum einsetzen lässt.
Anti Motion Sickness